Warum Du Deinem Kind schadest, wenn Du es ablenkst

Es ist eine alltägliche Situation: Ein Kind weint und seine Mutter tröstet es oder schimpft vielleicht manchmal auch mit ihm, weil es seine Situation scheinbar selbst zu verantworten hat. Es gibt zahlreiche Arten, wie Mütter auf ihr weinendes Kind reagieren. Was wir uns kaum bewusst machen, ist wie entscheidend unsere Reaktion für das weitere Leben unseres Kindes ist. Warum das so ist, und welche Möglichkeiten Du hast mit dem Schmerz Deiner Kinder umzugehen, darüber schreibe ich in diesem Artikel.

Zuerst will ich Dir zeigen, was einige übliche Reaktionen mit unseren Kindern machen:

Übliche Reaktionen und ihre Auswirkungen auf das Kind

1. Lösungen anbieten

Was ist in unserer Gesellschaft eine anerkannte Vorgehensweise bei einem Problem? Richtig, das Finden einer Lösung. Und genau das übernehmen wir ohne weiter darüber nachzudenken für unsere Kinder. Sobald wir Ihren Schmerz – sei er nun körperlich oder emotional – wahrnehmen, zeigen wir Ihnen Lösungen dafür auf.

Auf den ersten Blick, erscheint das als eine kindorientierte Lösung. Was wir dabei jedoch oft übersehen, ist, dass ein entscheidender Schritt fehlt:

Eine der wichtigsten Fähigkeiten im Umgang mit Problemen ist das Erkennen, Annehmen und Durchleben von Gefühlen. Nur so ist es möglich, eine Lösung zu finden, die auch tatsächlich das Bedürfnis erfüllt, das zu dem Problem geführt hat. Wenn wir zu schnell den Blick auf eine Lösung richten, übergehen wir dabei unser Kind.

Zurück bleibt das fade Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Und das obwohl doch jetzt äußerlich alles wieder in bester Ordnung ist. Das Kind fühlt sich nahezu gezwungen, wieder glücklich zu sein. Meist wird ihm das auch gelingen, den Kindern leben ganz für den Augenblick. Dennoch sammeln sich diese unbeachteten Gefühle an.

Willst Du, dass dein Kind zu einem Erwachsenen wird, der immer nur nach Lösungen sucht, statt einfach einmal traurig zu sein?

2. Ablenken

Eine zweite beliebte und wirkungsvolle Strategie im Umgang mit Schmerz unserer Kinder ist, sie abzulenken. Manche Eltern scheinen regelrecht amüsiert darüber zu sein, wenn ihr Kind seinen Schmerz augenblicklich vergisst, sobald Sie ein lustiges Liedchen anstimmen. Doch auch damit übergehen wir die Gefühle unsere Kinder.

Willst Du, dass dein Kind zu einem Erwachsenen wird, der sich mit allerlei Aktivitäten von seinem Kummer ablenkt?

3. Kleinreden

Noch fataler ist es, den Schmerz des Kindes klein zu reden.

„Ist doch gar nicht so schlimm.“ „Nichts passiert.“

Das sind ganz übliche Floskeln, wenn ein Kind sich weh tut. Mag ja sein, dass das Kind nicht wirklich körperliche Schmerzen verspürt. Dennoch hat es einen Grund zu weinen. Sonst würde es das ja nicht tun.

Vielleicht tut doch etwas weh. Oder vielleicht hat es sich einfach erschreckt. Und auch dies ist ein Gefühl, das anerkannt werden will. Indem wir sagen, es sei nichts passiert, geben wir dem Kind das Gefühl, mit seinen eigenen Emotionen nicht richtig zu sein. Auf Dauer führt das dazu, dass das Kind lernt, seine eigenen Gefühle zu ignorieren.

Willst du, dass dein Kind zu einem Erwachsenen wird, der hart mit sich selbst und wahrscheinlich dann auch mit anderen ist?

4. Appell stark zu sein

Ganz ähnlich ist es mit Sprüchen wie „Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“

Besonders Jungs sind oft stolz darauf, wenn sie tapfer und mutig sind. Es ist eine wirkungsvolle Strategie, sie darauf hinzuweisen, dass sie doch sonst viel mutiger sind. Doch leider fördert auch das auf Dauer keinen gesunden Umgang mit negativen Gefühlen.

Willst Du, dass dein Kind zu einem Erwachsenen wird, der immer stark ist?

5. Übertünchen

Auch ein paar Gummibärchen oder ein neues Spielzeug helfen oft schnell über Kummer hinweg.

Doch willst Du wirklich, dass dein Kind zu einem Erwachsenen wird, der sich mit Essen oder Konsumgütern von unangenehmen Lebenssituationen ablenkt?

6. Schimpfen

Manchmal passiert unseren Kindern ein Missgeschick, das wir vorhergesehen und vor dem wir sie gewarnt haben. Oder sie tun etwas, wovon sie „doch wissen“, dass sie es nicht dürfen. Dann fällt es uns oft schwer, sie zu trösten. Stattdessen schimpfen wir und machen ihnen Vorwürfe. Warum das niemals sinnvoll ist, erfährst Du im zweiten Teil dieser Artikelserie. Damit Du ihn nicht verpasst, trag Dich am besten gleich unter dem Artikel für meinen Newsletter ein.

Was du stattdessen tun kannst

1. Da sein, Umarmen und Streicheln

Gerade für kleine Kinder ist in schmerzlichen Situationen Mamas Nähe die wirkungsvollste Medizin. Unser Kinderarzt hat mir einmal gesagt, dass sich körperliche Wärme und Nähe sogar positiv auf schwere Verletzungen auswirkt. Die Selbstheilungskräfte des Körpers werden damit unterstützt.

Bei seelischen Schmerzen wissen wir das alle intuitiv. Indem wir unsere Kinder im Arm halten, bieten wir ihnen die Gelegenheit, in einem geschützten Raum durch ihre Emotionen hindurchzugehen, und sie dann hinter sich zu lassen.

2. Singen oder Summen

Das Singen oder Summen einer beruhigenden Melodie, hat eine ähnliche Wirkung. Es schafft ein Gefühl der Sicherheit, das unsere Kinder brauchen, um mit der Situation klarzukommen. Wichtig ist hierbei, keine gemeinsame Singstunde daraus zu machen. Denn sonst ist es wieder eher Ablenkung.

3. Wohltuende Maßnahmen ergreifen

Auch wohltuende Maßnahmen, wie das Pusten auf die schmerzende Stelle, Auflegen eines kalten Waschlappens, oder ähnliches vermitteln dem Kind Sicherheit. Doch bitte achte darauf, dass du nicht sofort in hektische Aktivität ausbrichst. Gönne Dir und Deinem Kind erstmal die wichtige körperliche Nähe und achtsame Zugewandtheit.

4. Den Schmerz verbalisieren

Eine besonders wertvolle Erfahrung ist es für unsere Kinder, wenn Sie Worte zu ihren Gefühlen bekommen. Dann fühlen sie sich ihren Gefühlen nicht mehr ausgeliefert, sondern können sie benennen, darüber sprechen und selbst Lösungen finden. Sie werden zum Gestalter ihres eigenen Lebens.

Beispiele: „Oh je, da hast du dich sicher erschrocken.“, „Dein Knie ist aufgeschürft. Brennt und kribbelt es?“, „Du scheinst ganz schön wütend auf Deine Schwester zu sein.“

Was im Gehirn Deines Kindes geschieht

In stark emotionalen Situationen – etwa bei Wut, Trauer, Angst und Schreck, ebenso wie bei körperlichen Schmerzen – arbeiten die emotionalen, instinktiven Bereiche unseres Gehirns auf Hochtouren. Das logische Denken ist uns kaum zugänglich. Unsere Emotionen und instinktiven Programme haben das Steuer übernommen. Für den Moment ist das sinnvoll. So sind wir in Sekundenbruchteilen in der Lage, uns in Sicherheit zu bringen. Kinder flüchten sich jetzt meist zu ihrer Mutter.

Wenn wir unsere Kinder nun ablenken oder Ähnliches, schalten sie übergangslos von fühlen auf denken um. Ein emotional ausgeglichener Mensch jedoch ist in der Lage, sein Gehirn in vollem Umfang zu nutzen. Er hat Zugang zu seinen Emotionen und instinktiven Programmen. Gleichzeitig kann er das alles rational betrachten, mit Worten beschreiben und so in lebensdienliche Bahnen lenken. Das wird in der Psychologie auch Selbstregulation genannt. Kinder lernen dies durch Nachahmung und unsere liebevolle Begleitung – die nicht endet, wenn die Tränen getrocknet sind.

Was auch im Nachhinein noch sinnvoll ist

Selbst die unscheinbarste Situation kann für ein kleines Kind so beeindruckend sein, dass es sie auch mit der einfühlsamsten Begleitung nicht gleich verarbeiten kann. Deshalb kann es wertvoll sein, immer wieder über die Situation zu sprechen. Oft tun Kinder das sogar von alleine. Dann ist es besonders wichtig, mit dem Kind so lange noch einmal über das Geschehen und seine Gefühle zu sprechen, bis es von selbst das Interesse daran verliert.

Als mein Sohn noch keine zwei Jahre alt war, purzelte er einmal im Kindergarten seiner großen Schwester die Treppe hinunter. Obwohl er noch nicht gut sprechen konnte, erzählte er mir wochenlang beim Erklimmen dieser Treppe davon. Ich sagte jedes mal zu ihm „Ja, da bist du die Treppe hinunter gefallen. Du hast dich ganz schön erschrocken. Zum Glück hast du dir nicht weh getan.“ Ich konnte deutlich spüren, wie wichtig ihm dieses Ritual war. Irgendwann hört es auf.

Heute ist mir klar, warum meinem Sohn das so wichtig war: Er hat eine für ihn beängstigende Situation erlebt, in der er die Kontrolle über seinen Köper verloren hat. Indem wir immer wieder davon gesprochen haben, konnte er be-GREIFEN, was passiert war und hat es so unter seine Kontrolle gebracht.

Warum ist das manchmal so schwer?

So weit die Theorie. Doch manchmal sind wir einfach genervt, wenn unser Kind „schon wieder wegen einer Kleinigkeit heult“. Oder wir leiden so sehr mit und wollen diesen Schmerz – bei unserem Kind und uns selbst – einfach nur weg haben.

Viele von uns haben als Kinder selbst nicht gelernt, auf wirkungsvolle Weise mit unseren Gefühlen umzugehen. Deshalb wählen wir eben eine Strategie, die uns vertraut ist. Lösungen suchen, ablenken, wütend werden oder ähnliches. Das ist keine bewusste Entscheidung, sondern es kommt einfach so über uns.

Was also können wir für uns selbst tun, damit es uns leichter gelingt, unsere Kinder durch ihren Schmerz zu begleiten?

Was du für dich tun kannst

Behandle Dich selbst so, wie Du es Dir für Dein Kind wünschst. Wenn Du ein unangenehmes Gefühl bei Dir bemerkst, dann nimm es wahr. Nimm Dich bildlich gesprochen selbst in den Arm, und wiege Dich. Finde Worte für Deine Gefühle, wenn auch vielleicht nur in Gedanken. Und dann beobachte sie, bis sie vergehen. Gönne Dir vielleicht auch im Nachhinein noch einmal ein paar Minuten Zeit, um die Situation Revue passieren zu lassen.

Fazit

Warum wir Menschen in und nach emotionalen Situationen weinen, kann wissenschaftlich noch nicht eindeutig erklärt werden. Wir wissen jedoch alle aus eigener Erfahrung, dass Weinen sich wie ein reinigendes Gewitter anfühlt. Erst „schüttelt es uns kräftig durch“ und danach beruhigen wir uns und fühlen uns irgendwie erleichtert. Wenn wir das Weinen unserer Kinder also einfach „weg machen“, nehmen wir ihnen die erleichternde und reinigende Wirkung der Tränen.

Zudem ist jede schmerzliche Situation eine große Chance für unsere Kinder, aus der sie viel für ihr weiteres Leben mitnehmen können. Und für uns bieten sie die Möglichkeit, unseren Kindern nahe zu sein. Diese einfühlsame Nähe bereichert unseren Alltag.

Lasst uns auch schmerzliche Situationen annehmen und unsere Kinder liebevoll darin begleiten. So gehen wir gemeinsam einen Schritt auf dem Weg unserer Kinder zu selbständigen, starken, ausgeglichenen und einfühlsamen Erwachsenen.

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